WM in Katar

Liebe Detzelnerinnen und Detzelner,

am Sonntag beginnt zum 22. Mal jene Veranstaltung, die das Herz eines jeden Fußballfans höherschlagen lässt.
Normalerweise.

Sie haben es in den Medien selbst verfolgt, ich brauche Ihnen hier also nicht noch einmal alles aufzuzählen, weshalb die Fußball-WM in Qatar umstritten ist.

Während der vergangenen Turniere haben sich viele von uns mit Nachbarn und Freunden getroffen, um gemeinsam die Spiele der deutschen Nationalmannschaft zu verfolgen und als „Zwölfter Mann“
unterstützende positive Schwingungen in die fernen Stadien zu schicken, in denen unsere Jungs um die goldene Keule kämpften. Wir waren mit ihnen fröhlich, wir waren mit ihnen frustriert.

Dieses aktuelle Turnier sorgt für einen unangenehmen Beigeschmack. Man kann ihn ignorieren und sich sagen, dass es hier um den Sport geht, um den Fußball und um eine Truppe hart arbeitender (und gut bezahlter) Männer, die unser Land repräsentieren und daher ihr Bestes geben. Das wäre selbstverständlich Grund genug, um sich zumindest diese drei bis sieben Spiele anzuschauen und wie gewohnt Anfeuerungen über den Äther
zurückzuschicken.

Immerhin ist es gerade draußen trüb und nass, es wird früh dunkel, die Gartenarbeit ist erledigt, das Weltgeschehen mutet apokalyptisch an. Warum also nicht für jeweils 90 Minuten entfliehen und mit Bier (hier gibt es wenigstens welches, auch wenn selbst das immer teurer wird) und Chips mal wieder einfach nur Fußballfan sein?

Ein Hoch auf uns!

Man kann versuchen zu vergessen, dass man visuell Gast in einem Land ist, das Frauen als Süßigkeiten und Homosexuelle als geistesgeschädigt betrachtet, dass die vollklimatisierten Stadien eine gewaltige Umweltsauerei sind und auf Gastarbeiterblut gebaut wurden.

Dummerweise habe ich persönlich Probleme damit.

Ja, auch unser Sommermärchen 2006 war gekauft – also wären wir die Letzten, die mit dem Finger zeigen sollten? Meiner Meinung nach hinkt dieser Vergleich.

Wer 2006 nach Deutschland kam, um sein Nationalteam anzufeuern, musste keine Angst haben, im Knast zu landen, weil seine Orientierung zu regenbogenbunt oder seine Meinung zu menschenrechtsbefürwortend
war.

Dieses Turnier findet in einem Land statt, in dem leben und leben lassen nicht möglich ist. Die reichen Wortführer dieser Einstellung werden durch diese Veranstaltung noch reicher, und eine anschauliche Anzahl an nicht-katarischen Sportfunktionären ebenfalls.

Ich weiß, das klingt wieder nach linkem Neidkomplex. Aber ich finde es erschreckend, wenn Geld einen höheren
Stellenwert hat als ein Menschenleben.

Wo bleibt die Menschlichkeit? Auf der Strecke?

Ein kleiner Denkanstoß von einem alten Freund:

Wie kommt jemand darauf, dass er das Recht hat, zu bestimmen, dass jenes Leben mehr wert ist als dieses? Geld? Der Zufall, der uns dorthin hat geboren werden lassen, wo wir es wurden?

Menschlicher Fortschritt misst sich nicht an wachsendem Reichtum oder industrieller Entwicklung. Er misst sich daran, welchen Wert wir einem Leben beimessen. Einem scheinbar unwichtigen Leben.
Einem Leben, an dem wir nichts verdienen können. Wie wir heute damit umgehen, daran wird eines Tages unser Zeitalter definiert werden.

Jeder von uns muss selbst entscheiden, ob er das Fußballspektakel dieses Mal genauso genießen kann wie sonst.

Ich kann es nicht, und das ist meine Entscheidung, die ich ausschließlich für mich treffe.

Hochachtungsvoll

Die Frau Koch